Heft #125


Liebe Leserinnen, liebe Leser,

sind Ihnen die Veränderungen der letzten Jahre in Malstatt aufgefallen? Und haben Sie schon mal daran gedacht, sich dort in der Breite Straße genauer umzusehen? Jedenfalls versprechen die neu eröffneten und alteingesessenen Geschäfte eine spannende Bummel- und Einkaufstour. Dies hat sich längst über die Grenzen des Saarlandes hinaus rumgesprochen. Das Untere Malstatt ist zu einem der beliebtesten Einkaufsziele der Großregion geworden.

Als Tausende syrische Kriegsflüchtlinge 2015 von vielen SaarländerInnen mit großer Hilfsbereitschaft empfangen und unterstützt wurden, war eine solche Entwicklung noch nicht abzusehen. Jetzt haben diese Menschen nicht nur eine sichere Zuflucht gefunden, sondern sich auch ein neues Leben aufgebaut. Der Beitrag vieler von ihnen für die Entwicklung unserer Stadt ist unübersehbar geworden. Der gute Ruf der Geschäftsleute in der Breite Straße beruht auf ihrem reichen Angebot und einem guten Service.

Die Stadt sollte diese positive Entwicklung weiter unterstützen und noch mehr für die Infrastruktur, vernünftige Verkehrsplanung, Wirtschaftsförderung und individuelle Beratung im Stadtteil tun. Die Saarbrücker Hefte haben die Breite Straße besucht und mit vielen Menschen gesprochen. Daraus ist die Reportage »Willkommen in Malstatt« entstanden.

Auch in den anderen Teilen der Landeshauptstadt gibt es positive Veränderungen. Zum Beispiel die geplante Einführung von Tempo 30 in der gesamten Innenstadt oder die Ausweitung der Fußgängerzone um den St. Johanner Markt. Ärgerlich ist dagegen der Abriss der stillvollen Wartehäuschen an der Saarbahn-Haltestelle Johanneskirche. »Ob der Verlust an baukultureller Einzigartigkeit durch eine weitere Kommerzialisierung und Austauschbarkeit des Stadtbildes ausgeglichen werden kann«, bezweifelt der Bund Deutscher Architekten Saarland in seiner Stellungnahme.

Bevor die beiden Wartehäuschen allerding eingeschmolzen werden, könnte ich mir eine weitere Verwendung für sie in der Breite Straße vorstellen, wo es an dieser Art von menschenfreundlichem Stadtmobiliar fehlt. Warum dies so ist, beschreibt unser Autor Dennis Kundrus in seinem Beitrag über die »defensive Stadtarchitektur« in Saarbrücken. Er belegt anhand einiger Beispiele, wie sich diese Architektur gegen die Menschen richtet.

Über die Gentrifizierung des Nauwieser Viertels schreibt die Autorin Isabelle Bastuck. Die Entwicklung erinnert sie an ähnliche Vorgänge im ehemals alternativen Stadtteil Prenzlauer Berg in Berlin. Dabei gibt es Alternativen zu der von privaten Interessen gesteuerten Stadtentwicklung. Das zeigt der Beitrag von Jonas Boos, der an die Organisationsform der Genossenschaft erinnert und gelungene Beispiele für gemeinwohlorientierte Projekte aufführt. Um die Selbstverwaltung geht es auch bei der Commune. Wie es dem gleichnamigen Kollektiv nach jahrelangen Bemühungen gelungen ist, ein Gebäude in der Saarbrücker Futterstraße zu erwerben, und was in dem zukünftigen soziokulturellen Zentrum geplant ist, beschreibt unsere Redakteurin Laura Weidig.

Wie kommen Frauen im Saarland zurecht, wenn sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollen? Wer berät sie, wer führt den Eingriff aus? Was lernen die MedizinstudentInnen darüber? Antworten auf diese Fragen gibt Laura Weidig in ihrer Recherche über die Auswirkungen des Paragrafen 218 im Saarland.

Unser Autor Uwe Loebens schildert in seinem Beitrag die Konflikte um die Restaurierung der Abteikirche in Tholey. Er beschreibt die Auseinandersetzungen zwischen dem Kloster als Eigentümer der Kirche, den Interessen der privaten Sponsoren und den Anforderungen des Denkmalschutzes. Es sei ein Lehrstück, wie im Saarland ein kulturhistorisches Monument in die Zange von Selbstherrlichkeit, Ignoranz und behördlicher Ohnmacht gerät, findet der Autor.

Große Schwierigkeiten hatte der Saarbrücker-Hefte-Lokalredakteur Ekkehart Schmitt bei seiner letzten Rad-Kneipentour zu überwinden. Diese führte ihn durch den Südwesten des Saarlandes. Es war nicht leicht, geöffnete Lokale zu finden, und noch schwieriger, die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie zu meistern. Aber am besten lesen Sie selbst, was so an der Grenzstraße Bremerhof los war und weiter in Großrosseln, Neu-Aschbach, Lauterbach, Ottenhausen, Gersweiler …

»Ist irgendjemand hier?«, schreit Tom Hanks, nachdem er als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes merkt, dass er sich auf eine unbewohnte Insel gerettet hat. Dieses Gefühl der Isolation und daraus folgenden Verzweiflung inspiriert die bildende Künstlerin Vera Loos. Ihr gehört die Galerie in diesem Heft.

In seinem neuen Buch »Verwirrende Wege« setzt sich der Historiker Hans-Joachim Hoffmann mit der politischen Geschichte der Stadt Ottweiler 1918/19 bis 1956 auseinander. Einer der führenden NS-Kulturfunktionäre in Ottweiler war Karl Schwingel. 1955 wurde er der erste Chefredakteur der Saarbrücker Hefte. Wir haben den Autor gebeten, für die LeserInnen der Saarbrücker Hefte einen Überblick über den Lebensweg des Mannes zu schreiben, der acht Jahren lang die Hefte geleitet hat.

Nach wie vor versagt die regierende Koalition aus CDU, FDP und den Grünen in Saarbrücken den Saarbrücker Heften jegliche finanzielle Unterstützung. Ohne Begründung. Die verweigerte Förderung gefährdet weiterhin unsere Existenz. Es ist uns in den letzten Jahren dennoch gelungen, das regelmäßige Erscheinen der Saarbrücker Hefte sicherzustellen. Mehr noch: Die letzten vier Ausgaben waren die erfolgreichsten in der Geschichte der Hefte. Wir haben die Anzahl der AbonnentInnen verdoppelt und die verkaufte Auflage der letzten beiden Hefte verdreifacht. Leider sind auch die Produktionskosten gestiegen. Deswegen sind wir weiter auf Unterstützung angewiesen.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, danken wir herzlich für Ihr Interesse und Ihre vielfältige Hilfe, ebenso unseren Werbepartnern. Im Namen der Saarbrücker Hefte wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihre Sadija Kavgić

Editorial
Sadija Kavgić

Titel
Sadija Kavgić
Willkommen in Malstatt
Wandel durch Einwanderung
Isabelle Bastuck
Prenzlauer Berg in Saarbrücken?
Das Nauwieser Viertel im Prozess der Gentrifizierung
Dennis Kundrus
Von Bänken und Menschen
Defensive Architektur in Saarbrücken
Carsten Diez
Eine kurzsichtige Radikallösung
Stellungnahme des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten Saarland zum Abbau der Wartehäuschen an der Saarbahn-Haltestelle Johanneskirche
Laura Weidig
Ein neues Zentrum für Saarbrücken
Pläne der Commune werden konkret
Jonas Boos und Frederik Moser
Von genossenschaftlichen Werten zum gesellschaftlichen Wandel?
Sadija Kavgić
Neikesstraße endlich umbenannt

Zeitgeschehen
Uwe Loebens
Schilda in Tholey – Eine Abteikirche wird restauriert und der saarländische Denkmalschutz beschädigt
Laura Weidig
Die Ärzte werden knapp
Versorgung ungewollt schwangerer Frauen
»Ich habe abgetrieben« Erfahrungsbericht einer Frau
Simon Ohliger
Ein Debakel mit Ansage – Zum Ausscheiden der Linkspartei aus dem Saarländischen Landtag

Geschichte
Hans-Joachim Hoffmann
Karl Schwingel, der erste Chefredakteur der Saarbrücker Hefte, als NS-Aktivist

Lokalitäten
Ekkehart Schmidt
Kaschemmen, Dorfkneipen und ein Turnerheim … Grenzkneipenlandschaft während und nach Corona

Nachruf
Ingeborg Besch
Seiji Kimoto – unvergessen

Galerie
Vera Loos
Ist irgendjemand hier?

Literatur
Roman Eich
Alt am Apparat

Isabelle Bastuck, geb. 1994, Studium der Germanistik, Philosophie sowie Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft.

Ingeborg Besch studierte an der Universität des Saarlandes und promovierte über Wassily Kandinsky bei Prof. Dr. Lorenz Dittmann. Nach dreijähriger Ausbildung in der Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart, gründete sie die Galerie Besch in Saarbrücken und 2019 die Galerie in der Alten Lateinschule in Illingen. Sie kuratierte Großprojekte wie den Kunstpreis Robert Schuman. Mit Inventarisationen der Künstler August Clüsserath, Walter Bernstein, Hans Schröder und Horst Hübsch engagiert sie sich für die Pflege saarländischen Kulturgutes.

Jonas Boos lebt und arbeitet in Saarbrücken. Studium der Volkswirtschaftslehre (Diplom) an der Universität Trier.

Carsten Diez, geb. 1965, Architekt, betreibt zusammen mit Igor Torres in Saarbrücken das Architekturbüro baubar urbanlaboratorium. Architekten BDA.

Roman Eich, geb. 1988 in Völklingen. Studierte Medienkunst an der HBKsaar und aktuell Literarisches Schreiben in Hildesheim. Er schreibt Drama und Prosa. Website: www.romaneich.de, Instagram: weird_pigeon_man.

Hans-Joachim Hoffmann, geb. 1951, Studium der Germanistik und Geschichte an der Uni Saarbrücken. Gymnasiallehrer in Landstuhl (1980–2000) und Ottweiler (2000–2017). Publikationen und Vorträge zu Ottweiler Pfarrer Johann Anton Joseph Hansen (1801–1875), Geschichte der jüdischen Gemeinde Ottweiler, Biographien der Ottweiler jüdischen Familie Samuel Levy und Jakob Coblenz, Geschichte des Landkreises Ottweiler/Neunkirchen etc. In Vorbereitung: Biographien der politisch Verfolgten und der Euthanasie-Opfer aus Ottweiler.

Sadija Kavgić, Journalistin und Übersetzerin. Geboren in Tuzla, Jugoslawien. Infolge der Belagerung von Sarajevo 1992 bis 1996 kam sie nach Deutschland. Publiziert in Deutschland und Bosnien und Herzegowina. Lebt in Saarbrücken.

Dennis Kundrus, lebt in Saarbrücken und arbeitet als Projektleiter im politischen Bildungsbereich. Er schließt gerade seinen Master in Geschichtswissenschaften ab. Seine Schwerpunkte sind Erinnerungs- und Geschichtspolitik sowie die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Faschismus.

Uwe Loebens, geb. 1958 in Völklingen, Künstler und Journalist mit Schwerpunkt Kultur.

Frederik Moser ist Diplom-Betriebswirt (Universität des Saarlandes). Er lebt und arbeitet in Saarbrücken.

Vera Loos, geb. 1955 in Saarlouis. Studium der Angewandten Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes. Arbeitet als Bildende Künstlerin und Literaturübersetzerin in Saarbrücken. Mitglied im Vorstand des BBK Saarland, im Vorstand des Kulturvereins Burbach, im Saarländischen Künstlerhaus, in der Kunstkommission der Stadt Saarbrücken und im Kunstrat des Saarlandes.

Ekkehart Schmidt, geb. 1964, Volkswirt und Journalist, aufgewachsen in Teheran und Köln, seit 1994 im Saarland, bis 2008 wissenschaftlicher Angestellter für Migrationsfragen beim isoplan Institut, seitdem beim Verein etika in Luxemburg in der nachhaltigen Finanz tätig.

Simon Ohliger war von 2015 bis 2022 Teil des LandessprecherInnenrates der Linksjugend [’solid] im Saarland. Er studiert Politik und Öffentliches Recht an der Universität Trier.

Laura Weidig, geb. 1984 in Saarbrücken, Studium der Germanistik (B.A.), der historischen Anthropologie sowie der Kultur- und Mediengeschichte.