Bodenkontamination


„Das fleißige Lieschen“, ein „Tatort“ aus dem Saarland

Von Stefan Ripplinger

Der Patriarch Hofer schwärmt noch von der „großen Sache“ des Nazismus Bildnachweis © SR/Manuela Meyer

Früher war der saarländische „Tatort“ ein verschrobenes Marketing-, heute ist er ein verschrobenes Fertigprodukt. Wir erinnern uns an Max Palu, eine Kommissarsrolle, der zuliebe der wunderbare Theaterschauspieler Jochen Senf verschlissen wurde. Palu sollte eine Art Übersaarländer sein, ein kultivierter und kosmopolitischer Bonvivant, wie er im proletarisch-kleinbürgerlichen Saarland eine Seltenheit, in der heimischen Beamtenschaft eine krasse Ausnahme gewesen wäre. Die Produzenten vertrauten darauf, dass die Mehrzahl der Zuschauer der bundesweit, in Österreich und in der Schweiz ausgestrahlten Fernsehserie das Saarland nicht aus eigener Anschauung kennen. (Eine Parodie auf diese Reihe legte Bernd Nixdorf vor; siehe „Salli Palli“; Saarbrücker Hefte 67/1992.)

Mit „Das fleißige Lieschen“ von Christian Theede (Regie) und Hendrik Hölzemann (Buch) liegt nun der nächtliche Gegenentwurf zum sonnigen Salü-Palu vor. Der Film spielt zwar im Saarland, aber selbst Pförtner und Arbeiterin sprechen ein besseres Hochdeutsch als AKK und mit den Verhältnissen vor Ort hat der Film möglicherweise noch weniger zu tun als die Palu-Krimis. Die Verantwortlichen haben sich nicht mal die fünf Minuten Zeit genommen, die es gekostet hätte, den Artikel über die Geschichte des Saargebiets auf „Wikipedia“ zu lesen. Das erweist sich ausgerechnet am politischen Thema des Stücks: Zwangsarbeit während der NS-Herrschaft.

Das Thema ist an sich nicht schlecht gewählt. Da das Saargebiet bis Mitte des letzten Jahrhunderts, also bis zu den Anfängen der Globalisierung, ein heiß begehrtes Industriezentrum, fast ausschließlich für Kohle und Stahl, gewesen ist, war Zwangsarbeit, übrigens nicht nur in den großen Werken, sondern auch in kleinen Betrieben und sogar in Familien, häufig. Auch nicht völlig ortsfremd ist es, sich eine saarländische Firma vorzustellen, die im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zu den Kriegsgewinnern gehörte und patriarchalisch-preußisch geführt worden ist. Wehrwirtschaftsführer Hermann Röchling, ein Nazi und Schinder, war ein solcher Patriarch. Er wurde bei den französisch geführten Rastatter Prozessen unter anderem wegen Verschleppung zur Zwangsarbeit angeklagt. Doch spätestens hier endet die historische Gerechtigkeit.

Denn nicht unlieb wäre dem deutschnationalen Röchling das gewesen, was der ermittelnde Kommissar (Vladimir Burlakov) im „Tatort“ über das fiktive Familienunternehmen Hofer & Söhne sagt: „Die Firma strauchelte in der Weimarer Republik.“ Wie alle Saarländer, nicht aber die Hersteller dieses Films wissen, hat das Saargebiet niemals zur Weimarer Republik gehört. Von Inkrafttreten des Versailler Vertrags bis zur Rückgliederung 1935 war es nicht Teil des Deutschen Reichs, stand unter Verwaltung des Völkerbunds und unter der wirtschaftlichen Ägide Frankreichs (weshalb die saarländischen Kumpels besser verdienten als die im Pott).

Der Fehler, die historischen Besonderheiten des Saargebiets, später des Saarlands zu ignorieren, setzt sich konsequent fort. Nach dem Krieg soll die Firmenleitung von Hofer & Söhne trotz ihrer hautnahen Kooperation mit den Nazis, glimpflich davongekommen sein. Im nun gegründeten Saarland, einem autonomen Staat unter der Präsidentschaft des Remigranten Johannes Hoffmann, verhielt es sich durchaus anders. Röchling durfte wie andere Kriegsverbrecher und Obernazis saarländischen Boden nicht mehr betreten, sein Unternehmen stand unter französischer Zwangsverwaltung. Hoffmann wollte es unter drei Nutznießern – Frankreich, Saarland und Familie – aufteilen. Erst nachdem Frankreich und Westdeutschland hinter dem Rücken Hoffmanns zum Schluss gekommen waren, das ökonomisch Günstigste sei es, ihn aus dem Weg zu räumen, war auch der Weg für die Rückkehr der Familie Röchling frei.

Die wahre Geschichte widerspricht also wenigstens streckenweise dem „Gesetz“, das der Patriarch im „Tatort“, gespielt von Dieter Schaad, ausgibt: „Die Starken herrschen, die Schwachen dulden.“ Auch wenn das häufig der Fall sein mag, zeigt sich bei nüchterner Betrachtung, dass auch Kriegsverbrecher ihre schlechten Tage haben und selbst tausendjährige Reiche in sich zusammensacken. Wäre es anders, wäre Widerstand zwecklos, oder der Widerstand müsste immer so bizarr aussehen wie in diesem Krimi, in dem eine frühere Zwangsarbeiterin (Marie-Anne Fliegel) einen Nachfahren des Peinigers ihres Bruders 80 Jahre nach dessen Ermordung auf rituelle Weise hinrichtet. Das ist so originell wie die Idee, Zwangsarbeiter könnten sich gegen Ende des Krieges mit einer Sabotage an der Firma gerächt haben. Tatsächlich gingen von den zwanzig Millionen Zwangsarbeitern, allein dreizehn Millionen auf dem Reichsgebiet, verblüffend wenige Sabotageakte aus. Grund genug zum Kampf hätten besonders die russischen Häftlinge gehabt. Bei ihnen verkürzte sich der Überlebenskampf auf die Frage, „wer wie langsam verhungert“ – wenigstens das gibt die mordende Zwangsarbeiterin im Film korrekt wieder.

Regisseur und Autor sind an dieser Geschichte nur oberflächlich interessiert, es geht ihnen um ein bis in die Gegenwart wirkendes faschistisches Prinzip der Abrichtung. Doch wie sie dieses Prinzip darstellen, hat selbst befremdlich gewalttätige, um nicht zu sagen unterwürfige Züge. Das ist erkennbar an den schematisch parallel angelegten Rollen: Patriarch und Enkel; Vater und zwei Polizisten, nämlich die beiden Ermittler. Der Patriarch Hofer, der noch von der „großen Sache“ des Nazismus schwärmt, als junger Mann „viele“ Zwangsarbeiter eigenhändig umgebracht hat und seine Nachfolger mit soldatischer Strenge erzieht, hat zwei Enkel: einer (Moritz Führmann) schwach und schwul, der andere (Gabriel Raab) brutal und süchtig. Der Vater (Torsten Michaelis) eines der Kommissare, Adam Schürk (Daniel Sträßer), ist ebenfalls ein solcher Patriarch, er scheint ebenfalls wohlhabend zu sein, er richtet ebenfalls mit harter Hand ab. Übereinstimmungen finden sich bis in die grausigen Details: Kinder, die sich vor Hunden fürchten, werden hier wie da stunden-, ja tagelegang mit bissigen Hunden zusammengesperrt, um die Furchtsamen zu stählen.  

Der Unterschied zwischen den Enkeln und den Polizisten besteht lediglich darin, dass der spätere Kommissar mit seinem späteren Vorgesetzten versucht hat, den prügelnden Vater, den dieser mit der Schippe niederschlug, zu verbrennen. Er überlebt aber wie alle bösen Väter und liegt im Koma in derselben Klinik, in die am Ende Patriarch Hofer eingeliefert wird. Einen Mordanschlag hat die Horde der Hofers nie fertiggebracht, zu ihrem eigenen Schaden, denn der Wettlauf der Gewalt entscheidet sich daran, was zuerst gelingt, der Patrizid oder der Filizid, der Vatermord oder die Opferung des Sohnes. Wer früher mordet, lebt länger.

Schürks Vorgesetzter, sein Komplize im unvollendeten Vatermord, der Chefermittler Leo Hölzer, ist die genaue Entsprechung zu dem schwulen Sohn des Patriarchen Hofer. Während sein Freund und Kollege schon in der allerersten Szene einen Mann im Bus (Dominik Klingberg) ohnmächtig schlägt, weil er ihn unangenehm an den eigenen Vater erinnert hat, bringt es Hölzer einfach nicht übers Herz, wehrlose Kriminelle zu töten. Grund dafür soll sein, dass ihm die Attacke auf den Vater des Freundes Gewissensbisse bereitet. Diese Kaprice, die man in anderen Weltgegenden „zivilisiert“ nennen mag, gereicht ihm nun überall zum Nachteil. Eine interne Ermittlung wird gegen ihn eingeleitet, weil er einen Verdächtigen, der seine Waffe bereits sinken ließ, nicht umstandslos niedergestreckt hat. Seine Kollegin Esther Baumann (Brigitte Urhausen) verbreitet deshalb, er habe „Schiss in der Buxe“. Sogar ein Ganove (effektiv wie immer gespielt von Robert Gallinowski) trägt es ihm nach, von ihm nicht angeschossen worden zu sein, und nennt ihn kurzerhand einen „Schisser“. Zu erleben ist eine Phallokratie alter Observanz.

„Schlappschwanz“ nennt der Mann im Bus seinen Sohn, weil der pinkeln muss, „Schlappschwanz“ nennt der Patriarch seinen schwulen Enkel und „Schlappschwanz“ nennt der zaudernde Kommissar vielleicht sogar sich selbst, er zittert jedenfalls stark, als er sein phallic attachment auf den unbewaffneten Ganoven richtet. Wer den Schwanz nicht mehr oder noch nicht hochkriegt, wer ihn nicht als Waffe, sondern bloß zur Notdurft verwendet, gilt als ein „Pisser“. Der Junge im Bus (Jakob Pohl) macht ins Bett. Sein Vater zischt: „Sollen wir gleich noch Windeln kaufen gehen? Ich schäme mich für dich. Du wirst es nie zu was bringen.“ „Jetzt stutzen wir erstmal diesen Pisser zurecht“, sagt der brutale Kommissar, bevor er den Ganoven einer Befragung unterzieht. Dieser Krimi stößt uns nicht nur auf Potenz- und Männerprobleme, die längst überwunden schienen, er macht sich mit ihnen gemein.

So haben wir je zwei junge Männer vor uns, der eine schwach, der andere grausam, zwischen denen mal ein Konkurrenzverhältnis besteht, mal eine erotisch gefärbte Männerbündelei herrscht. Frauen werden grundsätzlich nicht eingeweiht oder ihnen wird der Mund verboten, weil sie „ihr Gehirn nicht einschalten“, „nicht blöd, aber dumm“ oder gerade gut genug dafür sind, „ein paarmal gebumst und dann abserviert“ zu werden, wie eine der vielen abgelegten Geliebten (Catherine Bode) des testosterongetriebenen Enkels andeutet.

Gibt es solche Verhältnisse noch? Gewiss, aber sie sehen wohl im lethargischen Saarland anders aus, wo man so viele Sadisten – besser „Saardisten“, wie meine Lebensgefährtin meint – ohnehin nicht vermutet hätte, jedenfalls nicht auf einem Flecken. Im Saarland haben sich autoritäre Verhältnisse länger als anderswo, vielfach bis heute gehalten, zugleich wohnt man, anders als es der Film suggeriert, gewöhnlich nicht in abgelegenen Bungalows und Eremitenklausen, sondern relativ beengt, in krummen Bergmannshäuschen, an die meist angebaut worden ist. Die Überwachung durch Familie und Nachbarschaft ist darum enorm. Dass ein Vater seinen Sohn jahrelang misshandelt, kommt vor, kann jedoch nur unter äußerst ungünstigen Umständen ein großes Geheimnis bleiben.

Undeutlich bleibt, ob dieser Krimi Gewaltverhältnisse freilegen oder nicht vielmehr lehren will, nämlich, beat or be beaten, früher zuzuschlagen als andere. Bemerkenswert ist, dass einer der beiden Kommissarsfreunde als Junge die Misshandlung des anderen mit einem Feldstecher von einem Baumhaus aus verfolgt, ob aus Mitleid oder weil ihn der Anblick erregt, ist nicht klar zu entscheiden. Klar ist aber, dass er unsere Perspektive als Zuschauer einnimmt und machtlos zu sein scheint wie wir.

Abgesehen von dieser etwas unfreundlichen Perspektivdrehung, beweist der Film selten Ironie, er tut es im Grunde nur in der Wahl der sprechenden Namen. Der unehrliche Pförtner heißt Ehrlich (Axel Siefer), der finstere Ganove Weißer, der schwule Freund des Enkels, recht anzüglich, Fontaine (Marc Oliver Schulze), und eine klangliche Nähe stellt sich auch zwischen dem Patriarchen Hofer – früher „Halser“ genannt, weil er besonders gern in den Hals schoss – und dem Kommissar Hölzer her. Wo immer diese Hölzer gewachsen sind, es war nicht weit vom Hof der Hofer und Halser. Und der Boden, auf dem sie gehen, gilt zu Recht weiterhin als verseucht. „Bodenkontamination“ weist ein Schild vor dem Gelände aus, in dem die toten Zwangsarbeiter ruhen und auf dem der Enkel mit 60 Spazierstockschlägen gerichtet wird. Nicht gerade lieblich ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung, was uns noch blühen mag. Der letzte Satz des Films, gesprochen von der Mutter (Gabriele Krestan) des Kommissars mit der knüppelharten Rechten, lautet: „Vater ist aufgewacht!“

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